Elisabeth Kufferath © Zuzanna Specjal

Mittwoch | 30. April

19:30 Uhr · Hochschule für Musik, Theater und Medien Hanover · Richard Jacoby Saal, Neues Haus 1

Ensemble Incontri:
Wege und Ableitungen

in memoriam Peter Ablinger

Ensemble Incontri der HMTMH
Elisabeth Kufferath – Viola solo
fmsbw – Studio für elektronische Musik
Leitung: Aaron Cassidy

Programm
Eintritt frei
Eine Veranstaltung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover

Programm

 Programm

Pierre Boulez (1925–2016)
Dérive I (1984)
für Ensemble
Mildred Scholz – Flöte
Charlotte aus dem Siepen – Klarinette in A
Lotte Neick – Violine
David Goltsev – Violoncello
Junwoo Lee – Vibraphon
Francisco Cabrita – Klavier

Aldo Clementi (1925–2011)
B.A.C.H. (1970)
für Klavier
Francisco Cabrita – Klavier

Matthew Shlomowitz (*1975)
Freedom for Notes and Men (2018)
für sprechende Akkordeonistin und Zuspiel
Sonja Vertainen – Akkordeon

Enno Poppe (*1969)
Thema mit 840 Variationen (1993/97)
für Klavier
Tobias Dietrich – Klavier

Aldo Clementi 
Madrigale (1979)
für präpariertes Klavier (vierhändig) und Zuspiel
VincentNeeb, Sophie Neeb – Klavier

Peter Ablinger (*1959)
aus: Voices and Piano (seit 1998)
für Klavier und Zuspiel
Agnes Gonxha Bojaxiu (Mother Theresa)
Angela Davis

Luciano Berio (1925–2003)
Chemins II (1967)
für Viola und Ensemble
Elisabeth Kufferath – Viola solo
Mildred Scholz – Flöte
Charlotte aus dem Siepen – Klarinette in B
Sangwoo Kim (Posaune)
Jacob Lehmer – Schlagzeug
Tim Rumpelt – Schlagzeug
Siobhán Mathiak – Harfe
Lysander Burleigh – Elektro-Orgel
Felix Lohde – Viola
Justine Gehring-Plaum – Violoncello

Vor und nach dem Konzert im Foyer:
Peter Ablinger
Antiautoritäre Etüde
(aus Hinweisstücke, 2016)
und Zweites Streichquartett (Video-Installation, 2008/13)

Zum Konzert

Wir widmen dieses Konzert dem Gedenken an Peter Ablinger.

Dieses Konzert vereint zwei gegensätzliche und doch eng verwobene Stränge musikalischer Innovation. Zwei Wege vorwärts, zwei Wege hinaus aus bzw. fort von etablierten oder historischen Modellen sowie zwei Möglichkeiten, das Mögliche neu zu denken. Verstreut dazwischen sind Revolutionen, die nicht nur musikalischer Natur sind, sondern auf einer übergeordneten Ebene auch kulturell, gesellschaftlich und politisch.

Ein Strang ist die Wiederverwendung von Material – altes Material, „gefundenes“ Material (objet trouvé), umfunktioniertes oder in einen neuen Kontext gesetztes Material. Mal ist dieses Material musikalischer Natur, manchmal stimmhaft oder textlich. Mal bezieht es sich auf Werke anderer (historischer) Komponisten, mal ist es selbstreferenziell. Jedes der Stücke dieses Konzerts greift auf die eine oder andere Weise bestehendes Quellenmaterial auf und bearbeitet es, um etwas Neues zu erschaffen.

Das einfachste und unmittelbarste Beispiel dieses Ansatzes ist das letzte Werk des Abends, Luciano Berios Chemins II. Es basiert auf Sequenza VI, dem Bratschenbeitrag aus Berios höchst einflussreicher (und tatsächlich revolutionärer) Sequenza-Reihe für Soloinstrumente. Berio selbst schreibt: „Die beste Art, ein musikalisches Werk zu analysieren und zu kommentieren, besteht darin, ein weiteres Werk zu schreiben, das Material aus dem Originalwerk verwendet. ... Die Chemins (Wege oder Pfade) sind weder die bloße Verschiebung eines objet trouvé in einen anderen Kontext noch die orchestrale ‚Einkleidung‘ eines Solostücks, sondern vielmehr ein Kommentar, der organisch mit dem ursprünglichen Werk verbunden ist und aus ihm hervorgeht. Mitunter kehren sich die Rollen um, sodass der Solopart aus seinem eigenen Kommentar hervorgebracht zu werden scheint.“ Nicht zufällig folgten auf Chemins II später zwei weitere Wege: Chemins IIb für Orchester (1970) und Chemins IIc für Bassklarinette und Orchester (1972) – Kommentare über Kommentare…

Pierre Boulez’ Dérive I (Abweichung, Ableitung, Derivat) basiert ebenfalls auf Material aus früheren eigenen Werken, in diesem Fall Répons (1981) und Messagesquisse (1976-77). Insbesondere greift das Werk eine Akkordfolge auf, die aus dem Namen des Dirigenten und Förderers Paul Sacher generiert wurde (Es-A-C-H-E-Re [D in der französischen Notation]). Diese entlehnten, gemeinsam genutzten Materialien bilden die Grundlage für die Neugestaltung, die im Titel angedeutet wird.

Aldo Clementis Stück B.A.C.H. verfolgt einen verwandten Ansatz: Neben der offensichtlichen Referenz an Bachs Namen (durch das B-A-C-H-Motiv, das selbst ein traditionsreiches historisches Modell ist) ist diese kurze, schleifenartige Miniatur aus einer Sammlung fragmentarischer aufsteigender Tonleitern konstruiert, die aus der Fantasia und Fuge c-Moll (BWV 906) entnommen sind. Dieses Werk nimmt eine zentrale Stellung in Clementis Œuvre ein, da es für ihn eine völlig neue Arbeitsweise und eine neue kompositorische Sprache begründete. Das Stück entstand nach einer Periode von dreizehn Jahren, in denen Clementi das Komponieren für Klavier vermieden hatte. Es ist eine Antwort auf eine kompositorische Krise, die sich aus der Auseinandersetzung mit den Konsequenzen serieller Methoden und Harmonien ergeben hatte. B.A.C.H. erschafft eine diatonische harmonische Sprache, die trotz ihrer Vertrautheit gänzlich neu und frisch wirkt. Wieder ein neuer Weg nach vorn, der aus altem Material heraus entwickelt worden ist.

Clementis Madrigale basiert ebenfalls auf der strukturierten Neuformung von Namen, in diesem Fall denen der beiden Pianisten, die das Stück uraufführten: pAtrizio CEronnE und GuiDo zACCAGnini. Wie B.A.C.H. ist es ein kurzes, schleifenartig aufgebautes Stück. Doch statt die Schleife in quasi-minimalistischer Weise schlicht zu wiederholen, unterlegt Clementi sie mit einer stetigen Tempoverlangsamung (gesteuert durch ein vorab aufgenommenes Tonband), die charakteristisch für viele seiner späteren Werke ist. Die Identität der Schleife und unsere Wahrnehmung des Schleifenmaterials wandeln sich, während das Tempo allmählich zum Stillstand kommt.

Die selbstreferenziellen Aspekte des gesprochenen Textes und der Musik in Matthew Shlomowitz’ Freedom for Notes and Men sowie deren Verbindung zu bestehenden Modellen der klassischen und populären Musiktradition lassen sich wohl am unmittelbarsten in der direkten Erfahrung des Werks erfassen. Doch es sollte auch klar sein, dass Shlomowitz’ Ansatz nicht nur eine kritische – und zweifellos bewusst humorvolle – Rückschau und Würdigung historischer Modelle ist. Vielmehr ist er zugleich der Versuch, etwas Neues zu schaffen, alte Materialien zu nutzen, um etwas Relevantes und Gegenwärtiges auszudrücken. Indem das Stück die Vergangenheit kommentiert, zielt es darauf ab, einen neuen Weg vorzuschlagen.

Peter Ablinger ist in der Nacht zum 17. April dieses Jahres verstorben. Er war ein guter Freund, ich werde ihn sehr vermissen. Aber es ist gut, dass wir ein Stück von ihm für dieses Konzert vorbereitet haben, mit dem wir nun von ihm Abschied nehmen wollen. Wie in Shlomowitz’ Werk spielen auch in Peters Werk Voices and Piano – einer seit 1998 komponierten Sammlung von über 60 kurzen Stücken – Stimmen, Texte und historische Bezüge eine zentrale Rolle. Jedes Stück ist eine computergestützte „Transkription“ einer einzelnen aufgenommenen Stimme, meist einer prominenten Persönlichkeit oder einer historischen Figur. Die im heutigen Konzert präsentierte Auswahl von Mutter Teresa und der amerikanischen Philosophin und Aktivistin Angela Davis wurde selbstverständlich mit Blick auf das diesjährige Klangbrücken-Thema getroffen.  

Peter Ablingers Transkriptionsprozess, der einer Art digitalem, pixelhaft aufgelöstem fotografischen Abbild gleicht, präsentiert eine Analyse der Stimme – des gesprochenen Texts – sowie ihrer rhythmischen und tonhöhenbezogenen Charakteristika. In gewisser Weise sind die beiden Schichten – Stimme und Klavier – „dasselbe“ Material, doch ihr Zusammenwirken erzeugt eine neue, dritte Realität, die weder historische Referenz noch zeitgenössischer Kommentar ist, sondern eher ein magnetischer Schwebezustand zwischen beiden. Auch die Platzierung des Lautsprechers ist eine historische Anspielung: Wie Ablinger schreibt, wird er „auf einem Stativ vor dem Klavier positioniert, wo üblicherweise der Tenor einer Schubert-Liedinterpretation stehen würde. Ich betrachte diese Stücke gerne als meinen Liederzyklus.“

Enno Poppes Thema mit 840 Variationen schließlich verwendet zwar kein gefundenes oder historisches Material im eigentlichen Sinne, doch seine gesamte Essenz kreist um Wiederverwendung, Regeneration und Umwidmung. Das „Thema“ des Werks ist nur ein einzelnes Achtelmaß lang und besteht aus nicht mehr als zwei kurzen Dyaden von jeweils einer großen Sekunde. Dieser Ausgangspunkt ist bewusst einfach, reduziert und neutral, eher eine Frage als eine Aussage: „Was wäre, wenn ich genau damit anfinge?“ – und dennoch ist er voller Möglichkeiten. Alles, was folgt, entspringt einer akribischen Neuerfindung der möglichen Pfade, die in diesem einfachen Moment des Beginns angelegt sind.

Der zweite thematische Strang des heutigen Konzerts ist Mechanismus: Musikalische Verfahren, Prozesse oder Systeme, die durch ihre eigene Rigidität die Mittel für einen neuen Weg nach vorn, einen neuen Pfad für Innovation eröffnen, oft in direktem Gegensatz zu den Systemen oder Verfahren, die frühere musikalische Sprachen oder Stilrichtungen bestimmten. Auch hier geschieht dies in unterschiedlicher Weise, doch alle Werke teilen einen kompositorischen Mechanismus, bei dem uns eine gewisse Abstraktion, eine gewisse Distanzierung oder Rationalisierung des Materials erlaubt, die Materialien mit neuen Augen zu sehen. Diese Methoden eröffnen neue Möglichkeiten (für Harmonik, Rhythmik, Klangtextur usw.), und zugleich legen sie inhärente Eigenschaften des Materials frei, die zuvor vielleicht unbemerkt geblieben waren.

Clementi liefert hier vielleicht das klarste Beispiel. Die Bach-Referenzen – die aufsteigenden Tonleitern und die überlagerten Akzentuierungen auf den Tönen, die Bachs Namen buchstabieren – sind sorgfältig konstruierte Kanons, wie sie für Clementis reife Werke oft charakteristisch sind. In diesem Fall überlagern sich drei zyklische Strukturen, die sich an drei unterschiedlichen Intervallen kreuzen.  

Auch Poppe geht mit großer Präzision an seine Prozesse heran und nutzt computergestützte Algorithmen, die die rekursiven, sich selbst generierenden Verzweigungsstrukturen der Biologie und Botanik formen. Das Thema mit 840 Variationen ist das erste Werk Poppes, das mit dieser Methode komponiert wurde. Dabei kommt, wie der Kritiker Tim Rutherford-Johnson schreibt, „ein Lindenmayer-System (oder L-System) zum Einsatz, um musikalische Flows zu generieren, die sich unaufhörlich selbst erschaffen und wieder zerstören – ähnlich den Verzweigungen von Bäumen oder dem Wuchern von Algen.“

Auch Ablingers Werk ist hochgradig systematisch und ebenfalls computergestützt. Die von Thomas Musil und dem Institut für Elektronische Musik und Akustik in Graz entwickelte Analysesoftware ermöglicht es Ablinger, die Parameter zu steuern, mit denen das ursprüngliche Stimm- und Textmaterial in Tonhöhen und Rhythmen für das Klavier umgewandelt wird. Mit anderen Worten: Das kompositorische System erlaubt es Ablinger, die Größe der „Pixellierungen“ zu verändern und so verschiedene Elemente der „Realität“ des gesprochenen Textes und der vokalen Charakteristika sichtbar zu machen oder zu verstärken, auf denen die Pixellierungen basieren.

Die frühesten seriellen Systeme von Boulez sind seine bekanntesten, doch auch sein späteres Werk spielte mit Mustern, Mechanismen und akribischen Strukturen. Neben den Anspielungen auf Paul Sacher enthält Dérive I weitere und ähnlich systematische Bezüge zu William Glock, der damals Musikintendant der BBC war. Der französische Dirigent Philippe Albèra erläuterte diesen Aufbau genauer: „Dérive beruht auf der stetigen Vermehrung einer im Grunde simplen harmonischen Struktur (die sechs Akkorde, die ständig verwandelt werden). Jeder von ihnen enthält alle sechs Noten des Kryptogramms von William Glock, dem das Stück auch gewidmet ist, sowie sechs Transpositionen, die ein umgekehrtes Kryptogramm bilden.“

Dieses sind also Revolutionen oder zumindest Vorschläge für „Wege nach vorn“, „Wege hinaus“. Einige sind musikalisch, andere expressiv, wieder andere politisch. Besondere Erwähnung verdienen hier die beiden im Foyer präsentierten Werke von Peter Ablinger. Die „revolutionäre“ Qualität von Ablingers Antiautoritäre Etüde ist in vielerlei Hinsicht offenkundig. Doch über ihren politischen Gehalt hinaus (der durch das Datum ihrer Entstehung besonders deutlich wird: das Jahr 2016 markiert sowohl die Wahl Donald Trumps und Rodrigo Dutertes als auch das Brexit-Referendum) verweist sie auch auf eine der zentralen künstlerischen und ästhetischen revolutionären Thesen Ablingers: dass Musik in erster Linie eine Frage der Wahrnehmung ist, eine Frage danach, wie wir hören und mit welcher Intention wir uns auf das Hören einlassen. Seine Werke lenken unseren Fokus immer wieder neu, und diese schlichte Rekontextualisierung offenbart neue Quellen musikalischen Gehalts sowie sogar neue Möglichkeiten, sich vorzustellen, was Musik sein könnte. Man könnte sich etwa fragen: Sind diese Stücke in Wahrheit stumm?

Ablingers Zweites Streichquartett ist ein eindringliches und provokantes Werk, in dem die Stille besonders laut ist. Der 2013 in der Wüste von Mesr im Iran entstandene Film zeigt in der üblichen Aufstellung, Anordnung und Besetzung eines Streichquartetts vier iranische Frauen, die ihre Instrumente still in der Spielposition halten. Gedreht wurde vor dem Hintergrund sich ständig wandelnder Vorschriften und Einschränkungen für musizierende Frauen sowie eines völligen Verbots westlicher Musik. Die Szene ist zugleich traurig, hoffnungsvoll, wütend machend, berührend, mutig und voller Ungewissheit.

Natürlich gibt es noch einen dritten thematischen Strang: Boulez, Clementi und Berio wurden alle im Jahr 1925, also vor 100 Jahren geboren (übrigens: auch Shlomowitz, Jahrgang 1975, feiert in diesem Jahr einen runden Geburtstag…). Anlässlich dieses Jubiläums wollen wir an ihren enormen gemeinsamen Beitrag zur Entwicklung der zeitgenössischen Musik und ihrer neuen Ausdrucksmöglichkeit erinnern und zugleich Abschied von Peter Ablinger nehmen.

Aaron Cassidy

Professor für Komposition an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover

Leiter des Incontri – Institut für neue Musik

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