In diesem Konzert werden drei Komponist*innen vorgestellt, deren Werke seit Langem im Mittelpunkt der Arbeit des Quatuor Bozzini stehen: Die akribischen Kanons und kaleidoskopischen Strukturen von Aldo Clementi, dessen 100. Geburtstag wir in diesem Jahr feiern, passen ideal zur Klarheit, zum Fokus und zur makellosen Intonation, für die die Mitglieder des Quartetts bekannt sind. Ihr langjähriger Mitstreiter, der in Deutschland geborene Kanadier Michael Oesterle, arbeitet mit erkundenden Mustern, die eine Art suchenden, sondierenden Charakter erzeugen. Die in den USA geborene und in Toronto lebende Linda Catlin Smith wiederum treibt diesen Ansatz der Erkundung und Entdeckung noch weiter und steht für eine treibende, wandernde, offene und geduldige Herangehensweise an das Musizieren.
Neben diesen für die Geschichte des Quartetts zentralen Komponist*innen gibt es Uraufführungen von zwei Studierenden des Incontri – Institut für neue Musik der HMTMH: Leon Speicher aus Deutschland und James Anderson aus Großbritannien.
Programm
Aldo Clementi (1925–2011)
Momento (2005)
Aldo Clementis Momento ist in all seiner Schlichtheit eine unglaublich komplizierte Geschichte. Der Glasperlenspieler zeigt sein Material in all seiner kaleidoskopischen Schönheit, aber keinen Moment lang seine Technik. Ausgangspunkt sind der Widmungsträger GErArD pApE und die Noten GEADAE, die auf den „weißen Tasten“ zu einem Hexachord erweitert werden: DFACEG.
Die beiden Violinen spielen einen Spiegelkanon. Die restlichen sechs Töne (As, Ces, Es, Ges, B, Des), eine weitere „Tonart“, erscheinen im retrograden Spiegelkanon von Violine und Cello. Dann wird das Ganze wiederholt, aber jetzt sinkt die gesamte Struktur um einen Halbton und die beiden Kanons bewegen sich zwischen Violine und Cello bzw. Violine und Viola. Dann wird das Ganze noch einmal wiederholt, jetzt in der ursprünglichen Tonhöhe und mit der ursprünglichen Stimmung. Daraufhin wird das Stück noch zweimal von vorne begonnen, jedes Mal langsamer und leiser, bis es nur noch in Zeitlupe flüstert.
Alles das ist nur die äußere Hülle, in der sich eine Vielzahl von Reflexionen, Verschiebungen und Symmetrien verbirgt. Man soll dies beim Hören getrost ignorieren und einfach ein Meisterwerk aus der Feder eines alten Weisen genießen: verklärt, ruhig, erleuchtet.
(Björn Nielsson, Clemens Merkel)
Leon Speicher (*1997)
Wuseln (2025/UA)
Die Suche nach etwas Verlorenem, Vergessenem: Ein Gedankenblitz, eine Erinnerung versetzt dich in Unruhe, schickt dich auf eine Jagd, die dir keine Ruhe lässt. Es fühlt sich an wie ein Drang, dem du nicht widerstehen kannst. Die Suche treibt dich so weit, dass du völlig vergisst, worum es eigentlich ging. Du versuchst, es abzuschütteln, doch es kriecht aus den Tiefen deines Geistes hervor, schleudert dich zurück in die ziellose Jagd. Langsam beginnt dieses Etwas, dich zu verzehren, bis du erkennst, dass die einzige Lösung ist, innezuhalten, zu akzeptieren, dass das Verlorene für immer fort ist – und dass weiteres Streben dich nur tiefer in den Abgrund zieht. Der Weg nach oben erscheint trotz des anhaltenden Sogs viel klarer, je weiter du dich aus dem alles verschlingenden Schlund befreist. Die Sirenenklänge, die dich zurückrufen, werden schwächer, bis sie schließlich ganz verstummen – und nur noch der trunkene Ruf des Triumphs in dir widerhallt.
(Leon Speicher)
James Anderson (*1988)
That ghats, as viewed from a boat (2025/UA)
Das Treiben der Menschen in der antiken indischen Stadt Varanasi wird verdeckt vom Rauch der Einäscherungen, die nahezu ständig am Ufer des Ganges stattfinden. Ich wollte das Bild nahezu verborgener Bewegungen einfangen, die man nur erahnt, wenn man auf einem Boot vorbeigleitet und dabei die Lebendigkeit der Stadt spürt, ohne mit ihr in Kontakt zu kommen. Dieses Bild war meine Inspiration beim Komponieren dieses Stückes. Die häufig hyperaktiven Instrumente werden meist gedämpft von der weichen Dynamik des Rauchs, doch gelegentlich löst er sich auf und das unverstellte Leben auf den Ghats scheint durch.
(James Anderson)
- Pause -
Linda Catlin Smith (*1957)
Reverie (2025 / europ. Erstaufführung)
Tagträumerei bedeutet, sich in Gedanken zu verlieren; Musik zu komponieren (und Musik zu hören) ist eine Einladung, sich in musikalischen Gedanken zu verlieren. In einer Träumerei zieht einen der Geist in verschiedene Richtungen, es gibt Gedankenstränge, die einen hierhin und dorthin führen. In Reverie spielen die vier Musiker*innen zumeist als Einheit, doch zieht sich der eine oder die andere von ihnen auch immer wieder zurück wie ein verirrter Faden, der sich aus dem Gewebe löst. Diese losen Fäden kreisen um eine Idee, nähern sich ihr mal aus diesem, mal aus jenem Blickwinkel in sich ständig verändernden Sichtweisen, als würde man sich in einer Träumerei verlieren. Ich bin meinen alten Freunden vom Quatuor Bozzini sehr dankbar dafür, dass sie dieses Werk in Auftrag gegeben haben, und dafür, dass sie seit so vielen Jahren so leidenschaftlich mit Komponisten zusammenarbeiten.
(Linda Catlin Smith)
Michael Oesterle (*1968)
Three Pieces for String Quartet (2016)
1. Orb Weaver
2. Orang Utan
3. Kingfisher
Die drei kurzen Stücke verwenden allesamt Module innerhalb eines Schemas von Sequenzen aus Dreieckszahlen. Jedes Stück ist ein spielerisches Puzzle. Die Musik schwelgt im Prozess selbst, in den Mustern eines Systems, einer Methode, auf der Suche nach Entdeckung. Die musikalische Motivation ist die Freude am Vorwärtsgehen und am Finden eines Weges zurück zum Anfang. Der Titel ist eine Hommage an Strawinskys Drei Stücke für Streichquartett (1914/18). Wäre das Stück vierteilig, wäre der Titel eine Hommage an John Cage geworden.
(Michael Oesterle)