Das Doppelporträt der Schreyahn StipendiatInnen vereint ein weiterer doppelter Bezug: der von verräumlichter Musik und solcher mit einer politischen Botschaft. Verkörpert sind diese beiden auch im Œuvre des Jubilars Luigi Nonos (*1924). Sein langsam gereifter Stil einer politischen Aussage als ästhetisch-persönliches Bekenntnis hat auf Morali starken Einfluß. Der junge türkische Komponist stellt seine Werke in genau solchen Bezug. Auch ein zum extremen, zum Reduzierten neigender Ausdruck resultiert daraus.
Daß die beiden Mitstipendiaten ein gemeinsames Konzert planen, spricht für sie. Schließlich spielt die Elektronik eine protagonistische Rolle in den neuen Werken beider Komponisten.
Ihr wird eine verfremdende Rolle zugewiesen, die sie bei der Erkundung des Konzertraums, des Innen- und Außenraums spielt.
Programm
Mert Moralı (*1992)
Ballad for the Risk Class für Ensemble und Transducer (2022)
By paraphrasing Ulrich Beck, Angela McRobbie defines ‘risk class’ as an emerging portion of the middle class after the transformations in the work regime during the neo-liberalisation in the 1980s. According to her, this group of people associate themselves with the consuming habits of the traditional middle-class; nevertheless, they do not live under the benefits attributed to the middle class: job security, social security, paid vacations, parental leave etc. The second piece of Ballad for the Risk Class cycle focuses on the idealised virtuosity, its nostalgic connotations, and the destructive aspects of this nostalgia. The pianist, a metaphor for individualism and artisanal professionalism, is now turned into a button-pusher, copying-pasting and mechanically reproducing the ideas presented by the virtual pianist. Real and virtual performers share the same body, namely the body of the piano, in an unsettling manner that re-echoes the schizophrenia of late capitalism.
(Mert Morali, Berlin, 23rd April 2022)
Luigi Nono (1924–90)
Frammento dal Prometeo (1984)
für Bassflöte und Kontrabassklarinette
Hay que caminar, soñando (1989)
für zwei Violinen
Marta Kowalczuk (*1998)
shadows, glimmers, and apparitions: the two voices (2024)
für zwei Violinen und Viola
Aaron Cassidy (*1976)
The Crutch of Memory (2004)
for indeterminate string instrument
Marta Kowalczuk (*1998)
ru – ur (Schreyahn, 2022)
für Piccolo- und Altflöte und Elektronik
Mert Moralı (*1992)
Concerto – Neues Werk (2023/24)
für Ensemble im Raum verteilt und Elektronik
für Das Neue Ensemble
Das Stück mit dem Titel „Concerto" umfasst Voraufnahmen, Aufführungen im Offstage, Projektionen, Projektionen vom Offstage, Manipulationen der Voraufnahmen und Manipulationen der Projektionen vom Offstage. Da der Gegensatz zwischen innen und außen eher nach innen gerichtet ist, habe ich beschlossen, ein drittes Element einzuführen, um die Spannung aufrechtzuerhalten: den Techniker. Das dritte Element materialisiert den konzeptionellen Rahmen und hebt die strengen Grenzen zwischen Innen und Außen auf. Für mich ist der Techniker im Stillen der Katalysator, der die Gewohnheiten des Musikkonsums und die soziale Bedeutung von Musik für die Öffentlichkeit verändert und revolutioniert. In gewisser Weise stellt die Anwesenheit des Technikers die Grenzen zwischen Innen und Außen in Frage. Sie arbeiten für die Innenseite, werden aber als die stärkste Präsenz einer externen Kraft wahrgenommen. Die vorgesehene Besetzung für das Stück ist Flöte, Klarinette, Schlagzeug, Klavier, Violine und Violoncello. Der modulare Aufbau des Stücks ermöglicht jedoch die Hinzufügung weiterer Instrumente. Die Hinzufügung von Instrumenten erfordert eine Neubewertung der räumlichen Anordnung oder Verteilung der Instrumentengruppen im Saal. In der Version mit der Originalbesetzung sind die Bläser jedoch die primären mobilen Akteure, die sowohl auf der Bühne als auch im Off spielen. Das Klavier wird durch einen Wandler am Korpus des Instruments erweitert, wo ein virtuelles Klavier, das über eine Midi-Klavierlinie komponiert wird, gelegentlich mit oder gegen das „echte“ Klavier spielt. In dem Stück spielen Violine und Violoncello ab und zu mit Verstärkung. Der Tonbandteil, der hauptsächlich aus von den Instrumentalisten vorbereiteten Aufnahmen besteht, wird vom Techniker ausgelöst und live mit den Fadern gesteuert. Der Techniker steuert auch die Lautstärke der projizierten Darbietung aus dem Off. Die voraufgezeichneten Zeilen werden manchmal verwendet, um eine falsche Performance aus dem Off zu kreieren, die durch das tatsächliche, nicht projizierte Spiel aus dem Off hörbar wird. In diesem Zusammenhang ist der Techniker tatsächlich ein Darsteller und der wahre Solist des „Konzerts“. (MertMorali)